Deutungsprobleme im Evolutionsmodell

Als Hinweis auf Entstehungszentren werden gewöhnlich Endemismen gewertet. Unter Einbeziehung fossiler Formen verlieren viele Endemismen aber ihre Beweiskraft. Z.B. sind die Krallenfrösche gegenwärtig in Afrika endemisch; fossile Krallenfrösche kennt man aber auch aus Brasilien. Ohne deren Kenntnis könnte man Afrika also als Entstehungs- und Evolutionszentrum der Krallenfrösche ansehen.

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Weshalb die Tropen so viele Lebensformen beherbergen?

Die Vielfalt des Lebens in den Tropen ist frappierend: Auf einem Hektar Amazonas-Regenwald gedeihen über 500 Baum- und Lianenarten - in Mitteleuropa hingegen dominieren Buchen oder Eichen in ihren typischen Formationen über lediglich eine Handvoll weiterer Holzgewächse. Kolumbien beherbergt rund 3200 Echte Tagfalterarten - doppelt so viele, wie zusammengerechnet in Nordafrika und auf dem ganzen riesigen eurasischen Kontinent nördlich des 30. Breitengrades existieren. In der sattgrünen Decke des Kleinstaates Panama brüten ca. 900 Vogelarten - im viereinhalbmal so großen Deutschland etwa 250. Auf Borneo haben Zoologen aus den Kronen von nur 19 Bäumen 2000 Käferspezies geholt - ein Viertel der Diversität ganz Zentraleuropas.

Alles in allem bedecken tropische Regenwälder nur noch ungefähr 6 Prozent der irdischen Landfläche. Doch unter ihrem Kronendach haust das Gros der organismischen Vielfalt: 50-75%, nach Meinung mancher Biologen sogar mehr als 90% sämtlicher Lebewesen.

Aber warum weisen ausgerechnet die feuchten, warmen Breiten diesen unglaublichen Formenreichtum auf? So simpel die Frage ist, so schwer fällt Biologen eine Antwort. Denn das Band der Evolution lässt sich nicht zurückspulen, viele Ursachen der Fülle bleiben damit notgedrungen im Nebel der Erdgeschichte. Nur ansatzweise gelingt es Forschern, ökologische Zusammenhänge im wuchernden, krabbelnden, fliegenden, saugenden, sich gegenseitig verschlingenden Durcheinander der heutigen Lebensgemeinschaft zu erfassen - schon deshalb, weil immer noch unklar ist, wie viele Tier- und Pflanzenarten die Regenwälder überhaupt bevölkern.

Die Wissenschaftler ziehen sich aus der Affäre, indem sie die Faktoren auflisten, die jenem Reichtum förderlich sind. Trotzdem bleibt vieles offen, anderes widersprüchlich. Die Lösung des Diversitäts-Puzzles wird daher auch als der “Heilige Gral” von Ökologie und Evolutionsbiologie betrachtet.

Diesen suchte bereits mitte des vergangenen Jahrhunderts der Naturforscher Alfred Russel Wallace, dem auf seinen Reisen nach Amazonien und dem Malaiischen Archipel die Zunahme der Artenmenge von den Polen hin zum Äquator aufgefallen war. Er erklärte das Phänomen mit dem über Äonen stabilen warm-feuchten Klima in diesen Breitengraden. Jeweils weiter nach Süden und Norden hätten starke Klimaschwankungen, verbunden mit Gletscher-Vorstößen, Flora und Fauna immer wieder ausradiert. Wallace hatte zumindest teilweise Recht. In der Tat existieren Regenwälder kontinuierlich seit mehr als 60 Millionen Jahren - aber keineswegs in gleicher Ausdehnung und keineswegs ungestört. Mittlerweile gelten gerade die Schwankungen als diversitätssteigernde Antriebe. Heute wissen wir, dass in kühleren und trockeneren Klimaphasen, etwa während der Eiszeiten, die dichte Regenwalddecke geschrumpft und teilweise in viele Fragmente sehr unterschiedlicher Größe zerfallen ist - feuchte Inseln in einem Meer der Trockenheit.

Dabei wurden Bestände einer Art auseinandergerissen, Teile in Refugien isoliert. Der erste Schritt zur Bildung neuer Spezies war damit getan. Denn geographisch getrennte Populationen schlagen mit der Zeit oft unterschiedliche evolutionäre Pfade ein: Lebt etwa eine Vogelart, die bislang Insekten von Lianen abgesammelt hat, in einem Wald, in dem im Zuge einer Fragmentierung die Nahrungsquelle langsam schwindet, dann können sich jene Individuen stärker vermehren, die dank ihrer genetischen Grundausstattung oder zufällige Veränderungen z.B. der Schnabelform weiterhin genug Futter finden. So entwickelt sich auf Dauer eine neue Ernährungsstrategie, etwa die Insektensuche am Boden. In einem anderen Waldrelikt spezialisieren sich die Tiere vielleicht, vom Zufall geleitet und dann unter dem Druck der Umweltveränderung, auf das Kronendach.

Irgendwann hat sich das Verhalten der Populationen so weit auseinander entwickelt, ist deren Erbgut so weit umgebaut, dass sie sich nicht mehr miteinander fortpflanzen können. Aus einer Spezies sind zwei geworden, der Baum des Lebens hat sich verzweigt. Immer und immer wieder in den vergangenen Jahrmillionen zersplitterte der Wald und wuchs wieder zusammen. Dieses Pulsieren wirkte wie eine “Artenpumpe”, die eine Unzahl neuer Formen zu Tage förderte. Und war erst einmal eine hohe Diversität in die Welt gesetzt, erzeugte diese in einer positiven Rückkopplung noch mehr Reichtum: Weil eine Vielzahl an Pflanzen Platz schafft für eine Vielzahl von Insekten; weil mannigfaltige Blüten Scharen von Schmetterlingen und Bienen eine Nische finden.

Der Refugien-Mechanismus kann wegen der gewaltigen Ausdehnung der Tropen besonders gut funktionieren. Denn die bedecken fast dreimal mehr Fläche, als die Tundren in den scheinbar endlosen Weiten Sibiriens und Nordamerikas einnehmen. Der Grund dafür dürfte in der symmetrischen Anordnung der Klimazonen beiderseits des Äquators liegen. Dadurch bilden die Tropen einen ununterbrochenen Gürtel, wohingegen die einander entsprechenden Zonen gemäßigter Klimate durch Tausende Kilometer getrennt sind. Eine weitere Ursache ist der Verlauf der mittleren Jahrestemperaturen: Diese bleiben vom Äquator bis ungefähr zum 25. Breitengrad nahezu konstant.

Zeit, Fläche, Mangel, Evolutionstempo, Zufall, Gleichgewicht oder Chaos - die Vielfalt der Regenwälder hat eine fast ebenso große Diversität an Theorien zu ihrer Erklärung provoziert. Anders als ihr Forschungsgegenstand sind die Thesen allerdings noch relativ jung. Und so dürfen Biologen hoffen, dass die wissenschaftliche Selektion mit der Zeit die tauglichsten auswählt.