Diktat des Mangels
Die Artenfülle könnte aus dem Mangel begründet sein: Den Böden in den Tropen fehlt es bekanntlich weitflächig an Pflanzennährstoffen wie Phosphor, Stickstoff, Kalium und Kalzium. Das führt aber zu dem paradoxen Phänomen, dass der Artenreichtum auf relativ unfruchtbaren Böden ein Maximum erreicht. Normalerweise können bei extremem Nährstoffmangel nur ganz wenige Spezialisten bestehen, während bei einem Überangebot rasch wachsende Spezies die Leistungsschwächeren verdrängen. Reicht es aber für alle gerade zum Überleben, halten sie sich gegenseitig in Schach. Dann steigert sich die Diversität bis zur “dichtesten Packung”.
Komplexe Lebensformen
Bis zum Beginn des Kambriums vor etwa 540 Millionen Jahren gab es in den Meeren noch relativ wenig Sauerstoff. Was jedoch letztlich zu der kambrischen Explosion führte, bei der sich rapide unzählige neue Arten, darunter auch die Vorläufer aller heute bekannten Tierstämme entwickelten, bleibt umstritten. Aber auch Tiere standen unter dem Diktat des Mangels. Für sie war es schwer, die in der pflanzlichen Biomasse gebundenen Mineralien und Nährstoffe zu nutzen, weil Bäume und Büsche, um ihre knappen Ressourcen zu schützen, vielfältige chemische Abwehrstoffe produzierten. Diese Knappheit zwang zur Spezialisierung, zu immer stärkerer und feinerer Nischenbildung.
Wechselwirkungen der Organismen
Man könnte dem Mangel als Vielfalt schaffender Faktor weniger Bedeutung beimessen. Dafür aber die diversen gegenseitigen Beeinflussungen von Organismen wie Konkurrenz, Parasitismus, Raub und intime Partnerschaften etwa von Pflanzen und bestäubenden Insekten oder von Termiten und Holz zersetzenden Darmbakterien. Derartige spezifischen “verschlungenen” Abhängigkeiten dürften somit möglicherweise auch die Diversität stark in die Höhe getrieben haben. An faszinierenden Symbiosen und Verflechtungen bieten Regenwälder Beispiele zuhauf. Sie und weitere Einflüsse auf die Veränderung der genetischen Häufigkeit einer Population haben sehr wahrscheinlich zur Bildung neuer Arten geführt.
Dem Einfluss der Sonne
dürfte eine große Bedeutung als Evolutions-Treiber zukommen: Die starke, ganzjährige UV-Strahlung am Äquator hat mehr Mutationen zur folge. Konstant warme Bedingungen sorgen zudem für einen zügigeren Stoffumsatz in den Zellen und beschleunigen die natürliche Selektion. Auch beschert sie Organismen kürzere Generationszeiten, weil sie schneller reifen.
Deutungsprobleme im Evolutionsmodell
Als Hinweis auf Entstehungszentren werden gewöhnlich Endemismen gewertet. Unter Einbeziehung fossiler Formen verlieren viele Endemismen aber ihre Beweiskraft. Z.B. sind die Krallenfrösche gegenwärtig in Afrika endemisch; fossile Krallenfrösche kennt man aber auch aus Brasilien. Ohne deren Kenntnis könnte man Afrika also als Entstehungs- und Evolutionszentrum der Krallenfrösche ansehen.
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Weshalb die Tropen so viele Lebensformen beherbergen?
Die Vielfalt des Lebens in den Tropen ist frappierend: Auf einem Hektar Amazonas-Regenwald gedeihen
über 500 Baum- und Lianenarten - in Mitteleuropa hingegen dominieren Buchen oder Eichen in ihren
typischen Formationen über lediglich eine Handvoll weiterer Holzgewächse. Kolumbien beherbergt rund
3200 Echte Tagfalterarten - doppelt so viele, wie zusammengerechnet in Nordafrika und auf dem ganzen
riesigen eurasischen Kontinent nördlich des 30. Breitengrades existieren. In der sattgrünen Decke
des Kleinstaates Panama brüten ca. 900 Vogelarten - im viereinhalbmal so großen Deutschland etwa
250. Auf Borneo haben Zoologen aus den Kronen von nur 19 Bäumen 2000 Käferspezies geholt - ein
Viertel der Diversität ganz Zentraleuropas.
Alles in allem bedecken tropische Regenwälder nur noch ungefähr 6 Prozent der irdischen Landfläche.
Doch unter ihrem Kronendach haust das Gros der organismischen Vielfalt: 50-75%, nach Meinung mancher
Biologen sogar mehr als 90% sämtlicher Lebewesen.
Aber warum weisen ausgerechnet die feuchten, warmen Breiten diesen unglaublichen Formenreichtum auf?
So simpel die Frage ist, so schwer fällt Biologen eine Antwort. Denn das Band der Evolution lässt
sich nicht zurückspulen, viele Ursachen der Fülle bleiben damit notgedrungen im Nebel der
Erdgeschichte. Nur ansatzweise gelingt es Forschern, ökologische Zusammenhänge im wuchernden,
krabbelnden, fliegenden, saugenden, sich gegenseitig verschlingenden Durcheinander der heutigen
Lebensgemeinschaft zu erfassen - schon deshalb, weil immer noch unklar ist, wie viele Tier- und
Pflanzenarten die Regenwälder überhaupt bevölkern.
Als Evolutions-Treiber dürfte dem Einfluss der Sonne eine große Bedeutung zukommen: Sie löst durch
höhere Temperaturen und starker UV-Strahlung mehr Mutationen aus. Zudem beschert sie Organismen
kürzere Generationszeiten, weil sie schneller reifen. Und sie beschleunigt wegen des insgesamt
zügigeren Stoffumsatzes in den Zellen auch die natürliche Selektion.
Die Entstehung der Diversität vor Jahrmillionen ist für Biologen aber nur eine entscheidende - die
evolutionäre - Frage. Die andere lautet: Nach welchen ökologischen Regeln erhält sich der
Artenreichtum?
Ein Schlüssel zum Diversitäts-Puzzle ist die Sonnenenergie in Kombination mit Feuchtigkeit. Dafür
wurden eine Reihe statistischer Belege gefunden, indem Muster der Vielfalt mit Mustern der
Sonneneinstrahlung und der Niederschläge verglichen wurden. Dabei zeigten sich deutliche Parallelen.
Die Argumentation leuchtet auch ein: Je wärmer und feuchter es ist, desto mehr Biomasse produzieren
die Pflanzen, die am Anfang der Nahrungskette stehen. Und je größer der Kuchen, in desto mehr Stücke
kann er geteilt werden.
Als weiterer Vielfalts-Generator fungieren die gleichmäßig warmen Jahreszeiten der Tropen. Nektar,
Blätter, Früchte und Samen sind rund ums Jahr verfügbar. Und das schafft die Voraussetzung für mehr
Spezies.
Wissenschaftler ziehen sich ansonsten gern aus der Affäre, indem sie die Faktoren auflisten, die
jenem Reichtum förderlich sind. Trotzdem bleibt vieles offen, anderes widersprüchlich. Die Lösung
des Diversitäts-Puzzles wird daher auch als der “Heilige Gral” von Ökologie und Evolutionsbiologie
betrachtet.
Diesen suchte bereits mitte des vergangenen Jahrhunderts der Naturforscher Alfred Russel Wallace,
dem auf seinen Reisen nach Amazonien und dem Malaiischen Archipel die Zunahme der Artenmenge von den
Polen hin zum Äquator aufgefallen war. Er erklärte das Phänomen mit dem über Äonen stabilen
warm-feuchten Klima in diesen Breitengraden. Jeweils weiter nach Süden und Norden hätten starke
Klimaschwankungen, verbunden mit Gletscher-Vorstößen, Flora und Fauna immer wieder ausradiert.
Wallace hatte zumindest teilweise Recht. In der Tat existieren Regenwälder kontinuierlich seit mehr
als 60 Millionen Jahren - aber keineswegs in gleicher Ausdehnung und keineswegs ungestört.
Mittlerweile gelten gerade die Schwankungen als diversitätssteigernde Antriebe. Heute wissen wir,
dass in kühleren und trockeneren Klimaphasen, etwa während der Eiszeiten, die dichte Regenwalddecke
geschrumpft und teilweise in viele Fragmente sehr unterschiedlicher Größe zerfallen ist - feuchte
Inseln in einem Meer der Trockenheit.
Dabei wurden Bestände einer Art auseinandergerissen, Teile in Refugien isoliert. Der erste Schritt
zur Bildung neuer Spezies war damit getan. Denn geographisch getrennte Populationen schlagen mit der
Zeit oft unterschiedliche evolutionäre Pfade ein: Lebt etwa eine Vogelart, die bislang Insekten von
Lianen abgesammelt hat, in einem Wald, in dem im Zuge einer Fragmentierung die Nahrungsquelle
langsam schwindet, dann können sich jene Individuen stärker vermehren, die dank ihrer genetischen
Grundausstattung oder zufällige Veränderungen z.B. der Schnabelform weiterhin genug Futter finden.
So entwickelt sich auf Dauer eine neue Ernährungsstrategie, etwa die Insektensuche am Boden. In
einem anderen Waldrelikt spezialisieren sich die Tiere vielleicht, vom Zufall geleitet und dann
unter dem Druck der Umweltveränderung, auf das Kronendach.
Irgendwann hat sich das Verhalten der Populationen so weit auseinander entwickelt, ist deren Erbgut
so weit umgebaut, dass sie sich nicht mehr miteinander fortpflanzen können. Aus einer Spezies sind
zwei geworden, der Baum des Lebens hat sich verzweigt. Immer und immer wieder in den vergangenen
Jahrmillionen zersplitterte der Wald und wuchs wieder zusammen. Dieses Pulsieren wirkte wie eine
“Artenpumpe”, die eine Unzahl neuer Formen zu Tage förderte. Und war erst einmal eine hohe
Diversität in die Welt gesetzt, erzeugte diese in einer positiven Rückkopplung noch mehr Reichtum:
Weil eine Vielzahl an Pflanzen Platz schafft für eine Vielzahl von Insekten; weil mannigfaltige
Blüten Scharen von Schmetterlingen und Bienen eine Nische finden.
Der Refugien-Mechanismus kann wegen der gewaltigen Ausdehnung der Tropen besonders gut
funktionieren. Denn die bedecken fast dreimal mehr Fläche, als die Tundren in den scheinbar endlosen
Weiten Sibiriens und Nordamerikas einnehmen. Der Grund dafür dürfte in der symmetrischen Anordnung
der Klimazonen beiderseits des Äquators liegen. Dadurch bilden die Tropen einen ununterbrochenen
Gürtel, wohingegen die einander entsprechenden Zonen gemäßigter Klimate durch Tausende Kilometer
getrennt sind. Eine weitere Ursache ist der Verlauf der mittleren Jahrestemperaturen: Diese bleiben
vom Äquator bis ungefähr zum 25. Breitengrad nahezu konstant.
Wie aber können so viele Spezies in Regenwäldern nebeneinander existieren, ohne einander tödliche
Konkurrenz zu machen? Streben die Lebensgemeinschaften ein Gleichgewicht an, in dem lauter clevere
Spezialisten in einer Unzahl enger Nischen Seite an Seite leben? Oder sind die Tier- und
Pflanzengesellschaften zufällig zusammengewürfelt, so dass sich nicht der Beste durchsetzt, sondern
der, der eben gerade zur Stelle ist?
Stürzt z.B. ein altersschwacher Baumriese um und reißt eine Lichtung, dann wartet dort nicht etwa
ein großes Spektrum an Kandidaten inklusive der Besten im Boden darauf, das frei gewordene Areal zu
besiedeln. Vielmehr werden die Lücken hauptsächlich per Zufall besetzt. Nicht der fitteste
Wettbewerber für einen Standort kommt zum Zug, sondern jene Art, die gerade zufällig anwesend ist,
deren Samen etwa ein Tier ausgerechnet hier hat fallen lassen. Das bietet auch schwächeren Pflanzen
eine Chance - und fördert letztlich die Vielfalt.
Was also gerade selten ist, erhält eine Chance, sich auszubreiten. Die Artengemeinschaft fluktuiert
aber nur über einen langen Zeitraum und verhindert so die Dominanz einer Spezies, was erklären
hilft, dass die Tropen zwar einen immensen Reichtum an Arten produziert haben, deren Populationen
jedoch geradezu winzig sind. Die meisten Arten leben in exklusiven Nischen und ihre Gemeinschaften
streben ein Gleichgewicht an.
Zeit, Fläche, Mangel, Evolutionstempo, Zufall, Gleichgewicht oder Chaos - die Vielfalt der
Regenwälder hat eine fast ebenso große Diversität an Theorien zu ihrer Erklärung provoziert. Anders
als ihr Forschungsgegenstand sind die Thesen allerdings noch relativ jung. Und so dürfen Biologen
hoffen, dass die wissenschaftliche Selektion mit der Zeit die tauglichsten auswählt.
Faktor Koevolution
Welche Artenexplosion Koevolution auslösen kann, ist an einer der vielfältigsten Organismengruppen belegt: den Käfern. Mehr als 330.000 Spezies sind bislang bekannt, die Hälfte davon ist auf Pflanzendiät spezialisiert. Aus Erbgutanalysen und Gestalt-Ähnlichkeiten lässt sich ein Käfer-Stammbaum rekonstruieren. Verblüffenderweise verzweigt dieser sich myriadenfach (unzählbar), just nachdem Blütenpflanzen vor rund 100 Millionen Jahren die evolutionäre Bühne betreten hatten. Diese Pflanzen waren wie eine neue, unbewohnte Insel und die Blatt fressenden Käfer waren unter den ersten Kolonisten. Die Expansion in das ökologische Niemandsland setzte eine Spirale in Gang: Bäume und Büsche reagierten auf die Attacken der gierigen Krabbeltiere mit der Bildung chemischer Abwehrstoffe. Die nun besser geschützten Pflanzen forcierten die Entstehung neuer Käfer, welche wiederum die Flora zu Innovationen trieben. Und so weiter. Letztlich haben sich auf diese Weise rund 100.000 Käferarten entwickelt.
Symbiosen
sind Lebensgemeinschaften zwischen Organismen unterschiedlicher Arten, bei denen die beteiligten Partner Vorteile daraus ziehen und voneinander profitieren. Fast die gesamte Biomasse auf unserem Planeten besteht aus symbiotischen Systemen, wovon die Regenwälder als Symbiosen-Hotspots gelten. Sofern sich die Lebewesen in einer Symbiose durch ihre Größe erheblich unterscheiden, bezeichnet man den größeren Partner oft als Wirt, den kleineren als Symbiont. Wegen einer unüberschaubaren Vielzahl von wechselseitigen Abhängigkeiten wird grob zwischen verschiedenen Symbioseformen unterschieden, z.B. nach dem Grad der wechselseitigen Abhängigkeit, auf Basis der räumlichen Beziehung oder nach der Art des erzielten Nutzens beider beteiligter Arten. Sofern aus einer “Symbionten-Verschmelzung” neue Arten hervorgegangen sind, handelt es sich um Symbiogenese, ähnlich der Endosymbiontentheorie.
