Mimikry
Phänomen, bei dem ein Organismus das Aussehen oder Verhalten eines anderen Organismus imitiert, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Dies kann in der Natur als Tarnung vor Fressfeinden oder zum Anlocken von Beute oder Bestäubern geschehen. Es lassen sich grob 2 Arten von Mimikry unterscheiden, z.B. wenn ungiftige Arten giftig imitieren oder wenn mehrere ungenießbare Arten sich ähneln.
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Nichts als Lug und Trug
Es gibt sie - und doch wieder nicht. Sie sind sichtbar - aber nicht zu erkennen. Wehrlose Tiere und
wehrhafte Jäger überleben mit derselben Strategie: Sie schlüpfen in eine fremde Identität wie in ein
Versteck, verkleiden sich als Blume, Blatt, Zweig und Flechte, um nicht Beute zu werden oder um sich
Beute zu greifen.
Es gibt Behauptungen, die durch dauernde Wiederholung nicht wahrer werden. “Lügen haben kurze Beine” ist
eine davon. Daran stimmt so gut wie nichts. Wenn Lügen überhaupt “Beine” haben, dann gewiss keine
kurzen, sondern eher besonders lange. Denn Schwindel, Tricks und Täuschung gehören zu den bewährtesten
und am weitesten verbreiteten Überlebensstrategien in der Natur - und, wie sich herausstellte, auch zu
den ältesten.
Erste Versuche, anderen etwas vorzumachen, sich zum Beispiel hinter einem bunten Farbkleid zu verbergen,
können auf die Zeit vor etwa 550 Millionen Jahren angesetzt werden. Damals entwickelte sich nämlich der
Sehsinn. Augen entstanden, und wehrlose Lebewesen waren nunmehr feindlichen Blicken ausgesetzt. Aus
naheliegenden Gründen beeilten die Ausgespähten sich, möglichst rasch wieder unsichtbar zu werden oder
wenigstens unerkennbar.
Evolutionäre Kreativität war gefordert. Im Wettlauf gegen den Appetit ihrer sehenden Verfolger
“entdeckten” viele Arten, dass der geschickte Umgang mit Farben sich auszahlt. Sie “erfanden” Tarnungen.
formten ihre Körper um, dekorierten ihre Oberflächen mit diskreten oder grellen Mustern, Schminken und
Schattierungen, schlüpften in fremde Identitäten oder “experimentierten” mit Brechungswinkeln.
Aber auch Räuber mussten sich etwas “einfallen” lassen, denn sie konnten von denen, die Grund hatten,
sie zu fürchten, nun bereits von weitem gesehen werden. Die potentiellen Opfer waren vorgewarnt und
konnten rechtzeitig fliehen. Von den neu entwickelten Tarnungen und Maskeraden profitierten deshalb die
Jäger nicht minder. Ein paar Zentimeter mehr oder weniger Bein beeinflussten den Ausgang des
Versteckspiels auf Leben und Tod allerdings kaum. Manche der geschickten Schwindler kommen schließlich
ganz ohne Beine aus, andere schlagen Wurzeln.
Wenn Extremitäten in den Verlogenheits-Disziplinen der Natur überhaupt eine eigene Kategorie verdienen,
so allenfalls aufgrund ihrer Anzahl. Neben den Pflanzen haben es die Tausend- die Hundert-, die Acht-
und die Sechsbeiner nach rund 350 Millionen Jahren fortgesetzten Trainings eindeutig am weitesten
gebracht in der Kunst, scharfäugige Räuber, aber auch wachsame Opfer hinters Licht zu führen. Soviel zu
Beinen. Für das Gelingen von Täuschungsmanövern gibt es indes Wichtigeres: brauchbare Vorbilder nämlich.
Wo, wie im tropischen Regenwald, die Vielfalt der beieinander lebenden und miteinander konkurrierenden
Arten extrem groß ist, erreichen Lügner ihre höchste Dichte. Hier können sie unverdächtige Vegetation
nachahmen, die den Appetit der Fleischfresser gar nicht erst wecken und den Pflanzenfressern keine Angst
machen. Oder sie verkleiden sich Schafe im Wolfspelz und stellen giftige Arten dar, vor denen selbst
hungrige Räuber zurückschrecken. Schwindler sind auf Normalität angewiesen, um darin unterzutauchen.
Damit sie nicht auffallen, brauchen sie eine Welt von “ehrlichen” Modellen, die tatsächlich sind, was
die Betrüger nur zu sein vorgeben.
Ein Häufchen dürres Laub zum Beispiel: Dazwischen liegt ein vergilbtes ovales Blatt, dessen Ränder
leicht gewellt sind, deutlich sind die Mittelrippe auszumachen und das abzweigende Geäder, auch ein paar
Insektenbisse. Jeder Vogel kann es sehen. Aber weshalb sollte es ihn interessieren? Vögel fressen kein
Laub. Sie fressen Schmetterlinge, allerdings nur solche, deren Tarnung - z.B. als dürres Blatt -
misslungen ist. So helfen die Räuber auch noch mit, die Versager auszusondern und immer bessere
Nachahmer heranzuziehen.
In der Fauna des Regenwaldes wimmelt es von zahllosen Flora-Darstellern: Nahrhafte Häppchen wie Raupen,
Zikaden, Schnecken, Motten, Schmetterlinge paradieren unter den Augen der Fleischfresser dreist als
Flechten, Aststücke, Borke, Gräser, Knospen, Schimmelbefall, Blüten, als grüne Blätter, als gerollte,
welke, zerfetzte, modernde Blätter. Manche von ihnen setzen ihre Verkleidung nicht nur passiv, sondern
auch aggressiv ein: Was eben noch wie ein Klecks Vogeldreck aussah, packt plötzlich mit Beinen und
Beißzangen einer Krabbenspinne nach dem Schmetterling, der mit seinem feinen Rüssel in den
Ausscheidungen nach Salzen nüstern wollte.
Da es in der Natur nichts gibt, was es nicht gibt, sind auch Pflanzen selbstverständlich imstande, Tiere
nachzuahmen: Manche Passionsblumen halten sich z.B. Raupen von Leib, indem sie hier und da ein paar
winzige Nektarbläschen ausstülpen und gelblich färben. Heliconius-Falter fallen prompt darauf herein,
halten die Pickel auf der Pflanzenhaut für das Gelege eines anderen Weibchens und fliegen weiter - auf
der Suche nach einem eigenen Brut- und Futterplatz für den künftigen Nachwuchs.
Der erste Preis unter den Tier-Imitatoren geht an die Orchideen. “Schöner” betrügt keine andere
Pflanzenfamilie. Dazu gibt es einen separaten Artikel: ➔ Orchideen
So raffiniert ausgedacht und eingefädelt die beschriebenen Tricks und Fallenstellereien auch wirken, sie
sind nicht etwa zustande gekommen, weil jedes einzelne Tier, jede einzelne Pflanze sich Gedanken über
die eigene Zukunft gemacht und das Für und Wider der vorteilhaftesten Überlebens-Taktik sorgfältig
abgewogen hat. Keineswegs können Sechs- oder Achtbeiner planen wie ein Zweibeiner, der sich z.B. am
Schachbrett die eigenen Züge und die seines Gegners mit ihren Folgen überlegt, bevor er die nächste
Figur bewegt.
Alle Winkelzüge in der Natur, die heutzutage auf der Welt millionenfach in jeder Minute stattfinden,
müssen als vorläufige Endprodukte laufender Experimente gelten. Ungezählte genetische Kombinationen sind
vorhergegangen, mehr werden folgen und sich - unter anderem - in einer unendlichen Palette von Mustern,
Farben und phantastischen Körperformen ausdrücken.
Jede Neuerscheinung auf dem Markt des Lebens durchläuft die strenge Qualitätskontrolle dessen, was seit
Darwin als die “natürliche Selektion” bezeichnet wird. Das heißt: Schlechte Lügner werden “ausgelesen”.
Die Erbanlagen der Nachahmungs-Stümper werden aus dem Gen-Pool ihrer Population herausgefischt, bevor
sie sich fortpflanzen. Sie haben keine Perspektive. Manchmal kommt aber allerdings auch ihre Stunde:
Wenn die Umwelt sich verändert, können ausgerechnet die einstigen Versager beste Lebensbedingungen
finden. “Hopeful Monsters” nennen Evolutionsbiologen diese ehemaligen Stiefkinder der Selektion, die der
Zufall ans Licht des Erfolgs schwemmt.